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Aus dem Notizbuch

Eisblumen und Wünsche

Das ist der Fortschritt. Da muss man mitlaufen. So bissig wurden bisher die absurden Errungenschaften der technischen Entwicklung kommentiert. Nicht nur die Post wünscht Adressen in Druckschrift, damit sie maschinenlesbar sind. Das Tempo bestimmt auch die Bestrebungen, an Grundschulen die Schreibschrift durch die Druckschrift zu ersetzen, weil Schüler und Schülerinnen, wie man feststellen musste, handschriftlich langsamer schreiben. Doch Eldad Stobezki beschäftigt sich in seinen Notizen darüber hinaus mit Zwetschgenkuchen, Kornelkirschen, Wasser, gekochte Eier und – Eisblumen.

Große Filme der Filmgeschichte: „Yi Yi“ in restaurierter Fassung

Yi Yi von Edward Yang

Mit „Yi Yi (A One and a Two)“ legte Edward Yang vor 25 Jahren einen Spielfilm vor, der ebenso ernsthaft wie unterhaltsam eine Art sozio-psychologische Bestandsaufnahme der Gegenwart lieferte. Seine durch den Regiepreis in Cannes weltweit bekannt gewordene comédie humaine führt auf vielschichtige Weise den Einbruch der Moderne in das traditionelle Leben in Taiwan der neunziger Jahre vor Augen. Für die Filmkritikerin Marli Feldvoß besteht Edward Yangs große Kunst darin, dass er das Alte und das Neue zu integrieren versteht. Lange von der Leinwand verschwunden, kommt „Yi Yi“ nun in restaurierter Fassung ab 18. Dezember wieder in die Kinos. 

Kommentar zur NGO-Förderung

Geld vom Staat: Jetzt wird gedoppelt!

„Wissen wir nicht“ kann auch eine verweigerte Antwort sein. Unwissenheit schützt zwar vor Strafe nicht, ist aber unangreifbar. Die konservative Denkfabrik „R21“ bekommt künftig viel Geld vom Staat, dabei fand die Union NGO-Förderung doch zweifelhaft. Auf Fragen dazu reagiert die Regierung einsilbig. Stattdessen hat Schwarz-Rot im Bundestag beschlossen, die Förderung zu verdoppeln. „R21“ bekommt künftig 500.000 Euro pro Jahr. Helmut Ortner kommentiert den Vorgang.

Kenneth Hujers „All das passierte in diesem irrsinnigen Milieu Frankfurt“

Frankfurt ist ein Dorf

Ein Dorf ist Frankfurt vielleicht an seinen Rändern. Sonst – da hat Daniel Cohn-Bendit recht – ist es eine Metropole, die auf das dicke Volumen anderer Metropolen weise verzichtet. Der Frankfurter Kenneth Hujer, der nicht nur an Popkultur, Stadtentwicklung und Architektur interessiert ist, hat Frankfurt als Kunststadt und kulturellen Brennpunkt beschrieben und diesen Befund mit elf informativen Gesprächen gestützt. Wolfgang Rüger hat das Buch gelesen.

Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“ in Darmstadt

Erst braust es nur, dann braut sich was zusammen

„Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“ Friedrich Schiller, der mit seiner Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ darauf antwortete und forderte, dass das Theater sein Publikum erziehen und belehren und deshalb „jede Fessel der Künstelei und der Mode“ abwerfen sollte, wäre vermutlich mit dem heutigen Stand der darstellenden Kunst nicht glücklich gewesen. In Darmstadt wurde Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“ gespielt und mit aktuellen Botschaften versehen. Martin Lüdke hat sich das angesehen.

„Turandot“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Kein Happyend

In seiner erst posthum uraufgeführten Oper „Turandot“ lässt Giacomo Puccini viel Raum für Interpretationen, den Daniela Kerck in ihrer Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden gut zu nutzen wusste. Dass die Regisseurin die ursprünglich als Märchen überlieferte Geschichte Turandots mit den Lebenserfahrungen Puccinis zusammenbringt und damit den Wahrheitsgehalt von Märchen deutlich macht, hält Margarete Berghoff für eine gelungene Überschneidung. Sie vermisst zwar überraschende Ideen, schätzt dagegen aber sehr die völlige Absenz von „schablonenhaften Charakteren oder Bühnenbildern und Kostümen die einer Pralinenschachtel-Ästhetik gleichen“.

Nahost-Konflikt

„Ich bin keine Tragödie, ich bin ein Mensch.“

Die Süddeutsche Zeitung ließ zwei Jugendliche aus Gaza zu Wort kommen, um über Krieg und Zerstörung in den letzten beiden Jahren zu berichten. Wie konnten sie unter einem lauten, einem brüllenden Himmel überleben, dem Wirrwarr aus Explosionen, Nachrichten und Angst entkommen, von einer Fluchtstätte zur nächsten ziehen, ihr Haus verlassen und zwischen Trümmern wiederfinden? Detlef zum Winkel erinnert an unangenehme Widersprüche im Gaza-Krieg.

„Punch and Judy“ in der Oper Frankfurt am Main

Dadaistischer Serienkiller

In einer Erstaufführung ist in Frankfurt die Oper „Punch and Judy“ vom Briten Harrison Birtwistle zu sehen. Ein Stück modernen, unkonventionellen Musiktheaters, das in der großartigen Inszenierung von Wolfgang Nägele eine skurrile Komik entfacht, die einerseits nichts für schwache Nerven und andererseits von überbordendem Humor ist. Ein Gesamtkunstwerk im besten Sinne des Wortes, meint Andrea Richter, die sich bei der Premiere im Bockenheimer Depot königinnenlich amüsiert hat.  

Augenschein, Recherche, Aktualität

Das „ewige“ Russland

Wer Diffamierung und Etikettierung vermeiden will, akzeptiert ungern einen Volks- oder Nationalcharakter, selbst wenn die Betroffenen sich damit identifizieren. Und es ist unangenehm wahrzunehmen, wie Menschen sich gemäß solcher „Charaktere“ tatsächlich verhalten. Aber es geschieht eben. Wie oft ist die „russische Seele“ beschworen worden, in der die Extreme wohnen und aus der sich bis heute herleiten lasse, was dort geschieht. Felix Philipp Ingold ist der Spur in der Literatur gefolgt.

Literaturkritik

„Penelopes Weben“

Als wäre sie für TEXTOR gemacht: Alexandru Bulucz hat in seiner Antrittsvorlesung zur Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik an der Georg-August-Universität Göttingen seine persönlichen Zugänge zur Literaturkritik beschrieben. Anhand biografischer Verläufe kommen sie nacheinander ins Spiel und summieren sich trotz aller Unterschiede zu einer undogmatischen Haltung, die in der metaphorische Dynamik des Webstuhls zu sich kommt.

Mozarts „Mitridate“ an der Oper Frankfurt

Achterbahn der Gefühle

Ein Feuerwerk menschlicher Gefühle in musikalischer und tänzerischer Form prasselte bei der Premiere von Mozarts erster großer Oper „Mitridate, re di Ponto“ auf das Publikum in der Frankfurter Oper ein. Freuden- oder Wutkoloraturen in einem Moment, Liebe, Ängste, Zweifel und Trauer im nächsten. Einblicke in Innen- und Außenwelten wechselten in rasender Geschwindigkeit mit der Präzision und Schönheit eines Schweizer Uhrwerks. Am Ende blieb für Andrea Richter nur eine Frage: Wie konnte ein 14-Jähriger so etwas komponieren?

Ausstellung und Buch „making THEATRE“ – Theatermuseum München

making THEATRE

Was alles von Nöten ist, um ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen, führt derzeit das Theatermuseum München vor Augen. Die Ausstellung „making THEATRE – Wie Theater entsteht“ wirft einen Blick hinter die Kulissen und gewährt seltene Einblicke in den künstlerischen und handwerklichen Schaffensprozess. Um die Abläufe von der ersten Idee bis zur Premiere authentisch wiederzugeben, wurden Künstler:innen und Gewerke des Residenztheaters rund um eine Inszenierung von „Romeo und Julia“ ein Jahr lang begleitet. Walter H. Krämer hat die Ausstellung gesehen und kann deren Besuch nur empfehlen.

„Generation Deutschland“

Die Wiederkehr des Völkischen

Wenn aus dem „Nie wieder!“ ein „Schon wieder!“ wird, stellt sich die Frage: Was können wir tun? Die alte – jetzt neu etikettierte AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ reklamiert eine Sprecherfunktion für die gesamte Alterskohorte. Sie fordert, dass „Deutschland die Heimat der Deutschen bleibt“. Das Völkische kommt an – nicht nur bei der Jugend. Helmut Ortner macht auf die Wiederkehr eines alten Problems aufmerksam.

Ein israelischer Fall und seine tiefere Bedeutung

Politische Säuberung

Im Wörterbuch des Unmenschen hat „Säuberung“ sicher einen Ehrenplatz. In Diktaturen zählen zum ‚Unsauberen‘ umstandslos auch Menschen, die, wie kürzlich wieder geschehen, als ‚Müll‘ bezeichnet werden. Eran Rolnik, Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker in Tel-Aviv, ist auch Autor der Zeitung Ha’aretz. Seine kritischen Artikel zu Benjamin Netanjahu waren Anlass einer Untersuchung durch die israelischen National Service Commission. Rolnik beschreibt seinen Fall.

Laudatio zum Bettina-Brentano-Preis an Nadja Küchenmeister

Im Wirbel der Erinnerung

Am 27. November 2025 wurde der Schriftstellerin Nadja Küchenmeister der mit 10.000 Euro dotierte Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik überreicht. Die Jury schrieb dazu: „Köln, Berlin und Lissabon, das sind die Schauplätze in Nadja Küchenmeisters Gedichtband Der Große Wagen. Es sind Städte, die auf jeder Landkarte verzeichnet sind, Orte, die jeder zu kennen glaubt – in diesem eleganten und formvollendeten Langgedicht in zehn Teilen jedoch bergen sie Geheimnisse, denen man niemals ganz auf die Spur kommt.“ Beate Tröger hielt die Laudatio.

Dominik Grafs „Sein oder Spielen“

Spielen müssen sie ja letztlich doch selbst

Filmregisseure äußern sich, wenn sie den Spielraum dafür haben, professionell mit ihren Inszenierungen. Seltener sprechen oder schreiben sie über ihre Arbeit oder reflektieren nach der kurzen, aber doch sehr ausdifferenzierten Ideengeschichte des Spielfilms ihre Position und ihr Ethos, wie Dominik Graf das tut. Dabei geht es selbstverständlich auch um die Rechtfertigung der eigenen Entscheidungen. Den Bericht aus dem Getriebe des Illusionsapparates hat Ewart Reder gelesen.

Ein Künstlerbrief

Mein offenes Gefängnis

Man denkt an Paul Verlaine oder Silvio Pellico, die auch über ihre Gefängnisse schrieben, aber Fredie Beckmans erinnert sich in seinem Künstlerbrief an die lebensbegleitenden Einsperrungen, die Ein- und Aussperrungen zugleich waren und sich vom frühkindlichen Gitterbett bis zum Kunstkerker erstrecken. Freiheitsentzug hat viele Erscheinungsformen, und Künstler, die sich nicht fügen mögen, müssen stets einen Fluchtweg im Auge haben.

Erinnerung an die Friedensnobelpreis-Trägerin Bertha von Suttner

Die Waffen nieder!

Wie jedes Jahr wird am 10. Dezember der Friedensnobelpreis verliehen. Die Auszeichnung geht maßgeblich auf eine Frau zurück die etablierten Kreisen ein Dorn im Auge war. Bertha von Suttner war eine enge Vertraute Alfred Nobels, den sie für die Friedensbewegung gewonnen und später angeregt hat, sein Vermögen in diesem Sinne einzusetzen. 1901 erstmals verliehen, wurde ihr selbst der Friedensnobelpreis vor 120 Jahren zuteil. Doris Stickler erinnert an eine in Vergessenheit geratene Friedensaktivistin, die sich unermüdlich für Eintracht, Verständigung und Frauenrechte engagierte.

Eine neue Publikation über den Architekten Martin Elsaesser

Moderne Architektur und junge Generation

Gerade der Mangel an bezahlbaren Wohnungen lässt das öffentliche Gespräch über Architektur wieder aufleben. Die Diskussionen über Baukosten, Effizienz, Nachhaltigkeit und Ökologie haben unter dem Primat der Ökonomie, also des Billigbauens, zumeist etwas Wichtiges für Bewohner und Betrachter unserer Behausungen ausgespart: die Ästhetik. Jörg Schilling hat ein Buch über den Architekten Martin Elsaesser und dessen Baukunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Wilhelm E. Opatz stellt das Buch mit einem Textauszug vor.

Hannah Arendt und ihre Briefreisen

Als Bohemien ist die Sache schwieriger

Als Kathederphilosophin kann man sich Hannah Arendt nur schwer vorstellen. Eigensinnig, mutig und widersprüchlich hat sie den Lehr- und öffentlichen Meinungen, der herrschenden Moral und den Ideologien ihre Überlegungen entgegengesetzt, über die bis heute gestritten wird, weil sie nicht ignoriert werden können. Eine andere, nicht weniger selbstbewusste Seite ihrer Persönlichkeit offenbarte sie als Briefeschreiberin. Ria Endres hat ihre Korrespondenz mit Kurt Blumenfeld gelesen und lässt uns wissen: Hannah Arendt mag vor 50 Jahren gestorben sein. Tot ist sie aber immer noch nicht.

Einführung zur Ausstellung von Jonas Englert in der Galerie Anita Beckers

Was wissen wir von der Zeit?

In den Werken der Ausstellung „ce qui nous hante“ stellt Jonas Englert die Zeit nicht nur dar, sondern lässt sie sinnlich nachempfinden. Durch langsame oder wechselnde Bildfolgen, Licht- und Materialrhythmen sowie Schichtungen entsteht eine innere Dauer, verdichten sich Gegenwart, Vergangenheit und mögliche Zukünfte zu einem kollektiven Bildgedächtnis. Die Arbeiten machen Zeit zur erfahrbaren Dimension von Sehen, Hören, Oberfläche und Material. Mit der nachfolgenden Rede führte Heike Sütter bei der Ausstellungseröffnung in Jonas Englerts künstlerische „Auseinandersetzung mit dem Vergehen und Überlagern von Zeitschichten“ ein.

 

Max Beckmann und Mathilde „Quappi“ Kaulbach – eine Liebesgeschichte

Quappi haben. Quappi haben.

Mathilde von Kaulbach, die Quappi genannt wurde, war Max Beckmanns zweite Frau. Minna, die erste, gab auf seinen Wunsch hin die Malerei auf und wurde Sängerin. Quappi gab auf seinen Wunsch hin das Singen und Geigespielen auf und wurde sein bevorzugtes Modell. Das Verhältnis der beiden ist abzulesen in Beckmanns Bildern und Briefen. Es ist offensichtlich kein schlechtes gewesen. Marli Feldvoß hat die Spuren gelesen.

Sebastian Smees Buch „Paris im Aufruhr“

Ein Dreiergrab auf dem Friedhof Passy

Bei Archäologen gehört das Deuten ihrer Fundsachen zum Beruf. Aber auch dem Flaneur fügen sich visuelle Eindrücke zu fragmentarischen Geschichten, die sich unabhängig von der Realität selbst erzählen. Wenn Rainer Erd auf einem Pariser Friedhof zwei Brüder und eine Frau gemeinsam in einem Grab angezeigt sieht, wobei einer von ihnen Édouard Manet heißt, regt das seine Phantasie an. Das Rätsel, das sich damit verbindet, und die Geschichte der Toten findet er in dem Buch „Paris in Aufruhr“ erklärt.

Eine mathematische Entdeckung der Inder

Die Poesie der Null

In Zeiten der Netzspionage, der Internetüberwachung ganzer Völker treten Begriffe wie Algorithmus und binärer Code ins Bewusstsein vieler Menschen, die sich noch nie mit Mathematik beschäftigt haben. Der binäre Code drückt alle Informationen mit Eins und Null aus. Während die Eins schnell erfunden war, brauchte es dagegen lange, bis kluge indische Mathematiker die Null als Zahlenwert entdeckten. Clair Lüdenbach hat der Geschichte der Null nachgespürt und den Gründen für den mathematischen Genius der Inder.

Das Arbeits- und Sammlerleben des Verlegers Lothar Schirmer

Sein Leben: Bücher und Bilder

Genaugenommen ist Sammler kein Beruf, sondern eine Leidenschaft, oft eine Besessenheit. Bei Kunstsammlern tritt noch eine Mischung aus interessegeleitetem ästhetischen Begehren und Wert-Schätzung hinzu. Aber, wie die Bekenntnisse des Kunstbuch-Verlegers Lothar Schirmer nahelegen, sind Kenntnis und Genuss nicht die einzigen Kriterien, um von bedeutenden Werken fasziniert zu sein. Martin Lüdke hat sich von zwei Büchern des Verlegers aufklären und unterhalten lassen.

Die Demokratie in Deutschland ist nicht mehr wehrhaft

Wir sind müde

In Duisburg geboren, hat Hakan Akçit Deutschland lange als seine Heimat betrachtet. Der Autor und Übersetzer resümiert die jahrzehntelangen Kämpfe um Zugehörigkeit und Anerkennung, die unverminderte Präsenz von Rassismus und rechter Gewalt und die aktuelle Stadtbilddebatte. Er ist es leid, dass man „migrantisch gelesene Menschen für jede Misere verantwortlich“ macht und „blau-braunen“ Gesinnungen immer mehr Raum gewährt. Angesichts dieser Entwicklung ist für Hakan Akçit die „Aufforderung Wehret den Anfängen zu einer leeren, bedeutungslosen Phrase verkommen.“

Ein Porträt des Komponisten Roger Moreno-Rathgeb

Das Requiem für Auschwitz – ein Echo des Erinnerns

Roger Moreno-Rathgeb, Komponist und Nachfahre von Sinti, hat mit dem „Requiem für Auschwitz“ ein einzigartiges musikalisches Denkmal geschaffen. Das Werk, 2012 uraufgeführt, ist eine Widmung an die im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordeten Sinti und Roma. Anfang November 2025 wurde das Requiem im HR-Sendesaal in Frankfurt erneut aufgeführt – interpretiert von den Roma- und Sinti Philharmonikern unter der Leitung von Riccardo M. Sahiti. Das Requiem ist eine Botschaft gegen Krieg, Hass, Vorurteile und jede Form von Diskriminierung. Cornelia Wilß stellt den Komponisten vor.

Ernst Kantorowicz und das geheime Deutschland als Widerstandsprojekt

Vom Mittelalter zum Geheimen Deutschland

Im Rätselraten um die letzten Worte des Claus Schenk Graf von Stauffenberg, ob es nun „Es lebe das heilige Deutschland!“ oder „Es lebe das geheime Deutschland!“ gewesen sei, stellte sich die Frage, was denn das „geheime Deutschland“ tatsächlich war. Der Philosoph Enno Rudolph führt uns mit Ernst Kantorowicz ins Mittelalter und die Renaissance, um dort, jenseits nationalistischer Spekulationen, den Ursprung einer umfassenden, universalen Idee aufzufinden.

Aus dem Notizbuch

Eltern

Eine Auslegung des uralten, heiklen Spruchs „Blut ist dicker als Wasser“ beschwört die unbedingte Solidarität der Familie. Darauf setzen beispielsweise die sogenannten Enkel-Trickser mit ihren Erpressungsversuchen. Die leibliche Familie pflanzt, fürsorglich, Bilder der Geborgenheit ins Gedächtnis, ebenso wie die religiöse, wenn auch beide zu absurden Regelwerken und kontrollierender Herrschaft neigen können. Eldad Stobezki notiert aus der Erinnerung, die aufschließt zum täglichen Erleben.

Isolde Ohlbaums „Anderswo atmet man, hier lebt man“

Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit

Für Fotografen und Fotografinnen, die dem Charakteristischen nachstellen, gibt es den Kairos, den richtigen, vielleicht einzigen Moment, in dem das gelingt. Zu sehen sind solche Momente in den Porträts, Landschaften und Szenen von Isolde Ohlbaum. Mit Siebzehn ging sie ins unruhige Paris und genoss das Leben, wie es damals nur dort zu haben war. Zum Buch mit einer Auswahl ihrer Fotos aus dieser Zeit hat Rainer Erd einen persönlichen Zugang gefunden.

Alexander Hagelükens „Die Ökonomie des Hasses“

„Was Rechte anrichten“

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rechtspopulisten in Deutschland an die Bundesregierung kommen, scheint momentan gering. Dennoch sind die Zustimmungsraten bedenklich. Dabei machen sich die meisten ihrer Befürworter keine Gedanken darüber, welch negativen Auswirkungen dies auf die Wirtschaft haben würde. Alexander Hagelüken hat sein neues Buch dieser bisher wenig diskutierten Thematik gewidmet, und Winfried Dolderer hat es mit Gewinn gelesen.

Mira Nair im Gespräch mit Marli Feldvoß

„Wenn wir nicht unsere eigenen Geschichten erzählen, erzählt sie keiner“

Ihr Debütfilm „Salaam Bombay!“ war nicht nur ein großer Publikumserfolg, er brachte Mira Nair auch gleich einen Regiepreis und eine Oscar-Nominierung ein. Seither sorgte sie mit zahlreichen Spiel- und Dokumentarfilmen für Aufmerksamkeit. In Indien, Uganda und New York gleichermaßen zuhause richtet die Regisseurin ihr filmisches Augenmerk auf den entbehrungsreichen Alltag der wenig Begüterten. Mit der Filmemacherin und Mutter des neuen New Yorker Bürgermeisters Zohran Mamdani hat Marli Feldvoß vor einigen Jahren über die Hinter- und Beweggründe ihres künstlerischen Schaffens gesprochen.

Erinnerungen an Micha Brumlik

Indes:

Micha Brumlik war eine öffentliche Person, ein streitbarer Intellektueller, der Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg ging, sondern reflektiert auf die Widersprüche zusteuerte. Das konnte niemandem, der ihn auf den Podien diskutieren, ja einschreiten sah, entgangen sein. Bis 2013 hatte er als Erziehungswissenschaftler eine Professur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt inne, war ein Dutzend Jahre als Frankfurter Stadtverordneter tätig und wurde als Publizist geschätzt. Frank-Olaf Radtke erinnert an Micha Brumlik.

Die Wirkung des Nationalsozialismus auf die deutsche Nachkriegsphilosophie

„Wir sind entschlossen, aber wir wissen nicht wozu.“

Es gibt viele Antworten auf die Frage: „Wie konnte das geschehen?“ All diese Erklärungen lassen sich im Nachhinein geben. Einige aber, die sich auf strukturelle Prozesse beziehen, bieten die Handhabe, aus den Fehlern der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Wie sich solche Strukturen im gegenwärtigen Geschehen erkennen lassen und deren Analyse Kriterien bereitstellt, um die Faktoren totalitärer Ideologien in Traditionen und Denkweisen zu identifizieren, erläutert der Philosoph Martin Löw-Beer.

Eva Illouz’ Buch „Der 8. Oktober“

Tastendes Begreifenwollen

Die Soziologin Eva Illouz ist eine angesehene Emotionsforscherin, die mit ihren 12 Büchern sehr einflussreich ist und, weil sie sich nicht an Denk- und Sprachregelungen hält, immer wieder Empörung auslöst. Als in Marokko geborene Sephardin, die an Universitäten in Jerusalem, Paris und Friedrichshafen lehrt und in der ZEIT, Le Monde, Ha’aretz und Der Freitag publiziert, sitzt sie auch zwischen allen Stühlen. In ihrem Buch denkt Illouz über das Schicksal der Palästinenser und über Antisemitismus und Rassismus in den USA, Europa und Nordafrika nach. Jutta Roitsch hat das Buch gelesen.

„Monsoon Wedding“ von Mira Nair – Bollywood aufgeklärt?

Hochzeit von Ost und West

Mit dem Film „Monsoon Wedding“ lieferte Mira Nair eine Homage an die Lebenslust der Punjabi-Kultur und die unverwüstliche Kraft des allen Erschütterungen trotzenden Familienzusammenhalts. Bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, wurde „Monsoon Wedding“ (2001) im Jahr darauf auch für den Golden Globe Award nominiert. Marli Feldvoß hat mit einer Regisseurin gesprochen, die als „Vertreterin einer gelungenen Symbiose zwischen östlicher und westlicher Kultur“ wertgeschätzt wird und deren Sohn Zohran Mamdani seit kurzem als Bürgermeister von New York amtiert.

Gabriele Münters „Reise nach Amerika: Photographien 1899–1900“

Bilder aus Amerika

Bekannt ist sie als prominente Malerin des Expressionismus, auch als Zeichnerin, bis vor fast 20 Jahren das Münchner Lenbachhaus Gabriele Münters Fotografien ausstellte. Diese Fotografien, von Helmut Friedel in Buchform veröffentlicht, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika und zeigen einen eigenwilligen Zugriff auf die sichtbare Realität. Martin Lüdke hat sich von der Sammlung überraschen lassen.

Ein Meilenstein in der Designszene: Jörg Stürzebecher

Schreiben, Lehren, Sammeln

Sicher gab es sie schon immer, diese Nonkonformisten, aber sie waren eben immer schon rar. Jörg Stürzebecher, Germanist, Designer, Wissenschaftler und Publizist, hochgelehrt im unüblichen Sinn, streitbarer Selbstdenker und begnadeter Lehrer, kürzlich gestorben, war einer dieser unabhängigen Geister. An ihn, der sein Gedankennetz weit über seine Fachgebiete hinauswarf, erinnert Wolfgang Rüger.

Ein Essay über das gebrochene Israel nach dem Hamas-Überfall

Die kollektive Melancholie Israels

Das perpetuum mobile der Rache für die Rache scheint stillzustehen. Dem Vergeltungswunsch sind die Anlässe ausgegangen. Doch ein Waffenstillstand ist noch kein Frieden. Und für übertriebenen Optimismus besteht keinerlei Anlass. Das gebrochene, von Hass zerfressene Israel nach dem Hamas-Überfall und dem Vernichtungskrieg in Gaza ist anfälliger für die Verlockungen des messianischen Nationalismus als vor dem Justizputsch. Eran Rolnik hat die gesellschaftliche Situation analysiert.

Aus dem Notizbuch

Was die Leute erzählen

Das Ungeheure, Entsetzliche, Ungeheuerliche lässt sich nicht angemessen in Worte fassen. Einem Taxifahrer aber kommt viel Unsagbares zu Ohren, abgesehen davon, dass auch er Unsägliches zu sagen fähig ist. Eldad Stobezkis Notizen verwahren solche Aporien, aber auch die Legende von Bachs mathematischer Musik und das Lesen anderer Stolpersteine.

Mary Chapin Carpenters CD „Personal History“

Der Anti-Star von Charlottesville

„It’s the same but different“ – „Es ist das Gleiche und doch anders“, sagt man im Englischen. Für Künstler, die die Erwartungen ihres Publikums nicht enttäuschen wollen, besteht in dieser Differenz der Freiraum ihrer Entfaltung. Und bei der Folk- und Country-Sängerin Mary Chapin Carpenter mit ihrer ausdrucksstarken Stimme, deren Artikulation nichts dem Zufall überlässt, sind darin noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft. PH Gruner hat sich ihre neue CD angehört.

Nasser Abu Srours Buch „Je suis ma liberté” / „A Tale of a Wall”

Jeder hat seine Ecke

Was denkt der Freund? Was denkt der Feind? Der Krieg verhindert alle Kenntnis, nicht nur, weil alle Beteiligten und Parteilichen der eigenen Propaganda aufsitzen, sondern, weil die Kriegsgegner journalistische Recherche mit allen Mitteln verhindern. Wenn dann über einige Umwege ein Buch wie das von Abu Srour, das im Gefängnis geschrieben wurde, den Weg in die Öffentlichkeit findet, löst sich alle Parteinahme auf. Täter und Opfer, Lüge und Verrat. Jutta Roitsch berichtet, was in diesem Buch steht.

„La forza del destino“ im Opernhaus Zürich

Eine russische Drohne in der Schweiz?

Wieder eine von Protesten begleitete Oper: „La forza del destino“, Giuseppe Verdis letztes Musikdrama, in Zürich. Diesmal sorgte nicht das Werk selbst, sondern das Engagement von Anna Netrebko für Empörung bei Ukrainern wie auch Schweizern. Seit dem 24.2.2022 ist sie zum Beispiel für die Zerrissenheit des westlichen Kulturbetriebs im Umgang mit russischen Künstler:innen geworden. Andrea Richter hat sie sich mit einem kleinen schlechten Gewissen angehört. 

Deutsche Kultur in Ostmitteleuropa

Vom Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland

Anlässlich der vor 75 Jahren unterzeichneten „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ lud der Vertriebenenverband BdV Anfang August zu einer Gedenkveranstaltung ein. Hier war auch Bundeskanzler Merz zugegen. Dessen „ausweichende“ Rede ließ für Matthias Buth so einiges vermissen und wurde dem „Selbstverständnis Deutschlands als ,europäische Kulturnation’’’ nicht gerecht. Die Worte des Kanzlers drängen für ihn etwa die Frage auf, ob Schopenhauer, Kant, Rose Ausländer, Paul Celan und Moses Rosenkranz nicht als „Teil der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte, sondern als Repräsentanten der sogenannten Vertriebenenkultur“ zu verstehen sind.

Barbara Englerts Theaterproduktion: Die Ilias. Jetzt erzähle ich

„Wir nehmen uns, was uns gehört“

Im 8. oder 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ist das Versepos Ilias entstanden: Die Seemacht der griechischen Verbündeten belagerten die Stadt Ilios (Troja), besiegten in einer verlustreichen Schlacht die Trojaner, nahmen die Stadt ein und zerstörten sie. Homer, der mutmaßliche Verfasser der Dichtung, schildert den militärischen Aufwand, ziemlich alle Todesarten im Detail, mischt Mythos und Realismus, berichtet von Aggression, Hass, Rivalität, Liebe und Eifersucht. Die Schauspielerin und Regisseurin Barbara Englert hat in „Die Ilias. Jetzt erzähle ich“ die Geschichte in eine feministische Theaterperformance übersetzt, von der Ulrich Breth berichtet.

Andreas Maiers Roman „Der Teufel“

Gab es ein Leben vor dem Fernsehen?

Gott, so heißt es, habe den Menschen so verführbar und manipulierbar geschaffen, dass er nicht nur an den Teufel, sondern sogar an Gott glaubt. Beide betrachten in Andreas Maiers Roman „Der Teufel“, wie sich der Mensch medial von der Teilung der Welt in Gut und Böse überzeugen lässt. Das Fernsehen hat demnach unser Denken vereinfacht. Was Ewart Reder über das Buch mitteilt, regt die Neugier und die Leselust an.

Interview mit Aileen Schneider zur Operninszenierung von „Carmen“

„Es kann jeder passieren“

Für ihre beeindruckende Inszenierung von Aribert Reimanns „Melusine“ an der Oper Frankfurt wird Aileen Schneider am 10. November der renommierten Götz-Friedrich-Preis verliehen. Kurz zuvor feierte am Staatstheater Augsburg ihre Neuinszenierung von „Carmen“ Premiere. Hier lässt sie die Titelheldin Freiheit und Entfaltung in einem repressiven Patriarchalsystem suchen, das sie in einer den äußeren Schein wahrenden Vorstadtidylle verortet. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Hahn sprach mit der Regisseurin über die leitenden Motive der gegenwartsbezogenen Inszenierung, mit der Aileen Schneider zeitlos valide Aspekte deutlich machen will.

Ein Interview mit Helmut Ortner

„Demokratieverachtung und die Entsorgung der Vergangenheit …”

In einer Zeit, in der rechte Populisten und die AfD die deutsche Erinnerungskultur beenden möchten, wendet sich Helmut Ortner in einem Mailinterview mit dem Soziologen Patrick Allgöwer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit. Die „Entsorgung“ der NS-Zeit“ will er nicht akzeptieren.

Die Stadt und ihr Bild

Der Verfall nach Merz und die Fehler der Linken

Es hat verschiedentliche Interpretationen gegeben, um das Merz-Wort vom Problem im Stadtbild um die rassistische Assoziation herumzuführen. Das will nicht recht gelingen. Denn das eigentliche Problem ist das Bild vom Stadtbild mit den dazugehörigen Töchtern. Cinzia Sciuto, Chefredakteurin der italienische Zeitschrift „MicroMega“, stellt in ihrem Kommentar einiges zur Diskussion.

Modest P. Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ in Frankfurt

Macht in Russland

Vor dem Opernhaus in Frankfurt zur Premiere von Boris Godunow eine Gruppe von Ukrainern, die gegen die Aufführung dieses explizit russischen Werks protestierten. Drinnen dann eine fulminante Darbietung der Oper: die Titelpartie des russischen Zaren Boris, gesungen von einem Ukrainer. Sein Gegenspieler Grigori, der falsche Dimitri, von einem Russen interpretiert, der unter polnischer Flagge nach Moskau zieht, um den Zarenthron zu übernehmen. Das Ganze inszeniert von einem Britten, musikalisch geleitet von einem Bayern und ein Beweis dafür, dass Musik-Theater über aktueller Politik stehen kann, weil es einen Wert an sich hat, meint Andrea Richter. 

Wie ein Film verrissen wird, der noch gar nicht zu sehen ist.

Moi non plus

Seit Tagen hält die Kontroverse unvermindert an. Ist die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg, die sich als Verteidigerin Israels präsentiert, würdig, in einem Film die 2020 verstorbene Anwältin Gisèle Halimi zu spielen, die sich für die palästinensische Sache einsetzte? Ist denn die Idee einer friedlichen Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern in Verruf geraten? Ein schönes Thema für eine Debatte, wenn beide Seiten miteinander sprechen würden. Claus Leggewie hat sich Gedanken dazu gemacht. 

Versuch einer aktualisierenden Lektüre der „Verwandlungen“

Ovid als Gegenwartsautor

Für jemanden, der sich an Äußerlichkeiten orientiert, war damals wirklich alles anders und geht uns nichts mehr an. Tatsächlich aber handelt sogar die antike Literatur von Themen und Problemen, die uns heute noch beschäftigen. Was Ovid (43 v. Chr. bis etwa 17 n. Chr.) in den Metamorphosen, den Verwandlungen, in herrlichen Versen detailgenau beschreibt, muss nicht aufwendig interpretiert werden. Ein kleiner Gedankenschritt führt vom Besonderen ins Allgemeine, in unsere Gegenwart. Felix Philipp Ingold zeigt an wenigen Beispielen die Aktualität Ovids.

Gespräch mit der Autorin Ria Endres

Das meiste kann ich auswendig

Es geht um die Möglichkeiten der Poesie. Was tut eine Lyrik schreibende Person? Und warum tut sie es? Wie also entsteht das, was wir Gedicht nennen? Abschließende Antworten auf solche Fragen gibt es nicht. Dennoch bringt das Befragen Motive, aber auch Zufall und Notwendigkeit zum Vorschein, die das Gestaltungsbedürfnis zum Kunstwerk formt. Die Schriftstellerin Ria Endres, die seit 1969 in Frankfurt lebt, gibt Bernd Leukert Auskunft über ihren poetischen Schaffensprozess.

Ausstellung „Kirchner. Picasso“ LWL Museum Münster

Eine Zeit lang: Zeitgenossen

Jeder Künstler ist ein Originalgenie und einzigartig. Es gibt also Tausende einzigartige Originalgenies, die sich vermutlich gegenseitig feindschaftlich hochschätzen. Tatsächlich könnte es für einen Künstler entwürdigend sein, wenn seine Werke mit denen anderer Künstler in Vergleich gezogen werden. Das aber findet tendenziell in jeder Gemeinschaftsausstellung statt. Das Anfang des letzten Jahrhunderts gegründete Museum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) hat es nun gewagt, in Münster zwei Ikonen der Modernen Malerei gemeinsam zu präsentieren: Pablo Picasso und Ernst Ludwig Kirchner. Martin Lüdke hat genau hingesehen.

Interview mit Übersetzerin und Autorin Pociao

Ein Leben für die Bücher: Pociao

Mit ihren Übersetzungen öffnete Pociao in den 1970er-Jahren vielen die Tür zur experimentellen Literatur aus dem englischsprachigen Raum. Überzeugt, dass wir Schreibende brauchen „die unbequem sind, nachdenklich machen, Anstöße geben“, übernahm sie den Verlag Expanded Media Editions und gründete Pociao’s Books. Später brachte sie mit der Komponistin Ulrike Haage das Projekt Sans Soleil auf den Weg, das über zwei Jahrzehnte Musik und Literatur verschränkte und sich auf Texte von und über Frauen konzentrierte. Im Gespräch mit Wolfgang Rüger blickt Pociao auf ihr wegweisendes Wirken in einem männerdominierten Genre.

Aus dem Notizbuch

Hunde

Man sollte nicht so kaltschnäuzig über Hunde sprechen. Ihre sprichwörtliche Treue, die nur durch eine Wurst-Korruption ins Wanken geraten kann, hat sie zum begehrten Modell der darstellenden Kunst gemacht. Wo immer Menschen abgebildet werden, muss man damit rechnen, dass auch er da ist: der Hund im Vordergrund. Der beste Freund des Menschen führt in Eldad Stobezkis Notizen auch nach Jerusalem, und von da geht's zu den Bomben. Aber auch die Frau mit dem Milchkrug fehlt nicht und kein Ende der Welt.

Zur klassischen Avantgarde: Satie, Joyce, Duchamps

„Vergraben Sie den Ton“

Wie viele unserer rätselhaft gewordenen Wörter stammt „Avantgarde“ aus längst vergangener Zeit, als, zu Pferd oder ohne, Stoßtrupps todesmutig gegnerische Kommandeure attackierten und die Schwachstellen des Feindes einnahmen, bevor das Heer nachrückte. Die Verwendung der militärischen Vokabel in den Künsten hatte allerdings schnell ihren tieferen Sinn eingebüßt, als man gewahr wurde, dass kein Heer mehr nachrückte. Seitdem kämpft die Avantgarde um die Listenplätze der Innovation. Rolf Schönlau erinnert an die Bedeutung der klassischen Avantgarde.

Interview mit der ghanaischen Autorin Ivana Akotowaa Ofori

Beim Schreiben betrachte ich die Welt als Frau

In der Novelle Year of Return greift die ghanaische Autorin Ivana Akotowaa Ofori die gleichnamige Initiative der Regierung Ghanas auf, die 2019 Nachfahr:innen versklavter Afrikaner:innen zur Rückkehr in die Heimat einlud. Die Autorin schickt die Journalistin Adwapa aus den USA nach Ghana auf Spurensuche – und lässt die Geister der Versklavten aus den Tiefen des Atlantik emporkommen. Ofori verwebt Erinnerung und Magie zu einer Reflexion über wiederauflebende koloniale Verbrechen und ungelöste Konflikte. Rita Schäfer stellt die Autorin vor.

Politik und Religion (III)

Was ist zu tun, was ist zu hoffen?

Die Aufklärung hat den Menschen das Erklärbare erklärt. Die Naturwissenschaften haben sie aus dem Zeitalter der Geister und Dämonen geführt. Wahr ist auch, dass sie nicht verhindern konnten, sich zu Lasten der Menschen in Dienst nehmen lassen. Wissen, Tun und Hoffen können durchaus in verschiedene Richtung weisen. Peter Kern sieht im dritten Teil seines Traktats einen Ausweg aus dem Dilemma im Bündnis mit der Theologie, die in die Emanzipation führen kann.

Mephisto nach dem Roman von Klaus Mann am Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Schauspieler

Mit seinem Roman „Mephisto“ lieferte Klaus Mann einen Schlüsseltext über die Verantwortung des Einzelnen in einem faschistischen Staat. Angesichts des gegenwärtigen Zerfalls demokratischer Strukturen und Werte steht „Mephisto“ hierzulande auf dem Spielplan etlicher Theater und scheint das Stück der Stunde zu sein. Walter H. Krämer hat Luk Percevals gelungene Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden als eine „zeitunabhängige Warnung vor Opportunismus, der Diktaturen den Weg bereiten kann“ gesehen, die zu Recht großen Beifall geerntet hat.

Nachruf auf den Verleger und Künstler Michael Wagener

Ich habe geträumt, dass ich der Ausweg bin

In der hiesigen Buchbranche war der Verleger Michael Wagener eine Ausnahmeerscheinung. Der Kunstgeschichtler und HfG-Absolvent war Poesie und Gestaltung gleichermaßen verbunden und wurde für die Editionen des gutleut verlags mehrfach mit Preisen bedacht. Er förderte zudem viele junge Autori:nnen und hatte „erheblichen Anteil am Aufschwung der deutschsprachigen Lyrik“, weiß der Dichter  und Literaturvermittler Alexander Kappe, der mit Michael Wagener befreundet war. Nicht nur er wird den vor wenigen Tagen mit nur 59 Jahren verstorbenen Verleger schmerzlich vermissen.

Familie Rothschild

Ein Tag bei Baron Rothschild …

Rothschild stand lange Zeit für sagenhaften Reichtum. Und bis heute verbindet sich in Redewendungen der Name mit dem Gelde. Er leitet sich her vom roten Schild auf dem Haus im Frankfurter Ghetto Judengasse. Dort begann im 17. Jahrhundert eine beispiellose Familienkarriere. Mitglieder des Hauses wurden zu angesehenen Persönlichkeiten des politisch-wirtschaftlich-kulturellen Potentials in Europa. Christel Wollmann-Fiedler skizziert die Geschichte der berühmten Familie.

Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ in Frankfurt (1)

Was war denn da los? Irre viel!

Was 1941 mit Blick auf Deutschland geschrieben wurde, lenkt heute die Perspektive nach den USA. Zu viele Parallelen weisen das Vorgehen des Arturo Ui, wie Bertolt Brecht ihn – unwissentlich – charakterisiert hat, dorthin. Es sind die Strukturelemente diktatorischer Machtergreifung, die der Augsburger Dramatiker bühnenwirksam hervortreten lässt und schon damals in den Vereinigten Staaten ignoriert wurden. Die Frankfurter Inszenierung des epischen Dramas haben gleich zwei unserer Autoren besucht. Martin Lüdke schrieb uns: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ geriet in Frankfurt zum Triumph.

Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ in Frankfurt (2)

Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert / Und handelt, statt zu reden noch und noch

Wenn im Zuge einer politischen Machtübernahme Gesetze gebrochen werden, stellen sich die Protagonisten dieses Vorgangs als Kriminelle vor. Aber schon die Ankündigung von Verbrechen, wie sie jede Diktatur kennzeichnet, treibt den Autokraten Anhänger zu. Die Faszination, die sich, wie der Faschismus, von den fasces, den Rutenbündeln herleitet, die im antiken Rom um ein Beil gelegt waren, kann von Tyrannen gut genutzt werden, wie Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ vorführt. Die Frankfurter Inszenierung des epischen Dramas haben gleich zwei unserer Autoren besucht. Claus Leggewie ist davon angetan: „Das ist Theater“.

Der Überdruss der Franzosen

Die Nase voll

Es ist durchaus nicht so, dass deutsche Parlamentarier stets das Allgemeinwohl im Auge haben und die eigenen Interessen sowie die ihrer Partei dem Gelingen des Ganzen unterordnen. In Frankreich aber haben die Verhärtungen der Parteien und des Präsidenten offenbar zu einem Stillstand des politischen Systems geführt. Jutta Roitsch hat sich die abenteuerlichen Vorgänge dort genauer angesehen und differenzierte Haltungen bei den handelnden Personen sowie Bewegung außerhalb des Zentrums ausgemacht.

Ein Film von Peter Liermann

Echos des Verschwindens – von Wolken, Haiku et al.

Wolken sind ephemere Phänomene der Natur. Sie gehören zu den ständigen Erscheinungen des Himmels und sind doch selber unbeständig, wechselhaft und vor allem: flüchtig. Sie sind Ausdruck des Vergänglichen, verkörpern Werden und Vergehen des menschlichen Seins: am Himmel sichtbar gemachte Zeit, und doch nichts weiter als bloßer Zufall. Die Wolken sind gleichgültige Boten des Augenblicks, sie ziehen frei und intentionslos dahin.  Peter Liermann hat in seinem Film die Wolken mit japanischen Kurzgedichten verknüpt, sie seien Gleichgesinnte im Hinterlassen einer „Spur im Nichts“.

Der poetische Segen von Schloss Ribbeck

Birnen flüstern im Havelland

Was ist schon Realität? Wirksamer erscheint allemal die Fiktion. Interessant wird es, wenn die Fiktion so auf die Realität einwirkt, dass sie zur Wirklichkeit im Sinne der Fiktion wird. Ein Beispiel dafür ist die Ballade „Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, die Theodor Fontane 1889 verfasste. Die Geschichte vom Birnen schenkenden Gutsherren entstammt einer alten Sage, auf die sich nicht nur Fontane seinen Reim machte. Matthias Buth fuhr ins Havelland und berichtet vom Ort und der Geschichte der Ribbecks. Übrigens: Herr von Ribbeck wohnt am Birnbaum 25.

Licher Literaturpreis 2025: Laudatio für Sissi Tax

Untergründigst taxlich

Im September 2025 nahm die steirische Wahlberlinerin Sissi Tax für ihr Buch „das abc der sissi tax“ den Licher Literaturpreis entgegen. Mit ihrer spielerischen Prosa, heißt es in der Begründung der Jury, „entfacht ein regelrechtes Sprachfeuerwerk und eröffnet damit einen faszinierenden Zugang zur Sprache. Aus der assoziativen Reihung ganz unterschiedlicher Stichwörter entstehen originelle Bedeutungszusammenhänge, in denen sich der Reichtum der Sprache, auch der des Alltags, enthüllt.“ Ruth Sonderegger ist vertraut mit der literarischen Arbeit Sissi Tax‘. Ihre Laudatio auf die Preisträgerin spricht davon.

Aus dem Notizbuch

Wie kam die Hefe in das Baguette?

Der Liebestrank ist nicht nur ein Aphrodisiakum, sondern eine bewusstseinsverengende Droge. Böse Zungen behaupten, sie wirke nicht nur bei Tristan und Isolde, sondern auch über die Musik Wagners selbst. Darüberhinaus war Wagner bekanntlich ein Antisemit. Die Diskussion darüber, ob seine Musik antisemitisch sein kann oder ob sie überhaupt etwas sein kann außer sie selbst, kann wohl nicht aufhören. Aber es gibt ja noch anderes in den Notizen Eldad Stobezkis wie Brot und Bier ohne Hefe, rechtwinklige Häuser, folkloristischer Nationalismus, Geiseln in Gaza, Spinnen, Aale und Schnürsenkel.

Nicolas Sarkozy zieht um

Die Straße der Gesundheit

Der Berg, auf dem die lyrisch gestimmten Studenten aus dem Quartier Latin ihre Gedichte zu rezitieren pflegten, wurde von ihnen nach dem griechischen Sitz der Musen Mont Parnasse genannt. Ursprünglich war das ein gigantischer, spätmittelalterlicher Schutthaufen. Heute hören wir bei der Erwähnung des Quartier du Montparnasse in unserem Inneren die Musette auf dem Akkordeon und andere verschüttete Souvenirs klingeln. Aber der Stadtteil hat auch seine unerbittlichen Seiten. Rainer Erd erzählt von einem, der umzieht.

„Wallenstein“ an den Münchner Kammerspielen

Des Kaisers Feldherr und Putins Koch

Der böhmische Generalissimus Herzog Albrecht von Wallenstein, der im Dreißigjährigen Krieg die katholische Liga gegen die protestantischen Fürsten und die Streitmächte aus Dänemark und Schweden führte, wurde schließlich auf Anweisung des Kaisers Ferdinand II. ermordet. Friedrich Schiller hat ein gewaltiges, dreiteiliges Theaterstück daraus gemacht, das in den Münchner Kammerspielen inszeniert wurde. Regisseur Jan-Christoph Gockel hat das Drama küchentechnisch gedeutet und in das siebenstündige „Schlachtfest“ auch noch aktuelle Bezüge integriert. Walter H. Krämer war dabei.

Kurt Gerstein: SS-Obersturmführer im Widerstand?

Schaf im Wolfspelz

Die Verstrickungen des hochrangigen SS-Mitglieds und Hygiene-Spezialisten Kurt Gerstein in die Massenvernichtung des NS-Regimes sind bis heute umstritten. Nach der Befreiung als Belasteter eingestuft, wurde er 1965 juristisch rehabilitiert. Seit Anfang der 2000er Jahre mehren sich die kritischen Stimmen. Gerd Laudert hat sich mit den konträren Sichtweisen befasst und hält es für angebracht, noch einmal neu und genauer auf die Causa Gerstein zu schauen.

Elliott Sharp in Frankfurt

Am Anfang ist das Ende nahe

TEXTOR veranstaltete in Verbindung mit der Frankfurter Galerie Hübner + Hübner einen Abend mit Elliott Sharp. Sharp, Komponist, Produzent, Multiinstrumentalist, bildender Künstler und Pädagoge, der Gruppen wie SysOrk, Orchestra Carbon, Terraplane oder Tectonics gründete und leitet, schrieb nach „IrRational Music“ aus dem Jahr 2019 ein zweites Buch „Feedback: Translations From The IrRational“, das er in Frankfurt vorstellte. Hans-Jürgen Linke hat den Abend mit Lesung und Gitarrenmusik mit Gewinn besucht.

Die Dreigroschenoper am Staatstheater Mainz

Und der Haifisch hat noch immer Zähne

„Die Dreigroschenoper“ gilt als einer der weltweit größten Theatererfolge. Begleitet von Kurt Weills mitreißender Musik prangerte Bertolt Brecht hier 1928 die Ausbeutung und wachsende Verelendung der weniger Begüterten an. Komprimiert hat er seine Kapitalismuskritik in dem zum Klassiker gewordenen Satz „Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral“. Margarete Berghoff war in der aktuellen Inszenierung am Staatstheater Mainz und ist nicht nur vom Geschehen auf der Bühne begeistert. Neben äußerst niedrigen Eintrittspreis erhalten die Zuschauer:innen kostenlos Brezeln, Spundekäse und Getränke.

Hans Joachim Schädlichs Band „Bruchstücke“

Aber hallo!

Man sollte erwarten, dass man zum Geburtstag – selbst zum 90. – Geschenke bekommt. Bei Hans Joachim Schädlich ist es umgekehrt. Er hat sich seine Gedanken gemacht, sie in Form von anekdotischen Notizen gesammelt und in ein Buch gepackt, das er seiner Leserschaft zum Jubiläum offeriert. Auf diese Weise ist es freilich auch ein Geschenk an sich selbst. Martin Lüdke hat nun in seinem Geburtstagsartikel seine Erinnerungen dazugelegt und sich am Buch erfreut.

Ausstellung „What Are You Thinking?“ im Portikus Frankfurt

Rascheln und Kippeln

Wie kann das gehen, was Susan Sontag in ihrem Essay „Against Interpretation“ fordert: Mehr sehen und fühlen, dafür weniger interpretieren? Die beiden Kuratorinnen Liberty Adrien und Carina Bukuts nehmen in ihrer Abschiedsausstellung Sontags Überlegungen zum Ausgangspunkt, um im Portikus Frankfurt einen Parcours zu gestalten, dessen Objekte so wenig preisgeben, dass sie permanent den Titel der Schau „What Are You Thinking“ in Erinnerung rufen. Ursula Grünenwald hat die sehenswerte Ausstellung durchquert und ihre Beobachtungen notiert.

Björn Höcke und die AfD

Der rechte Extremist

Jedem ist bekannt, dass die Demokratie vor ihren Feinden, die sich demokratischer Strukturen bedienen, um sie zu zerstören, nur schlecht wehren kann. Die Gefahr besteht in allen westlichen Demokratien. In Deutschland geht sie von einer Partei aus, in der ein Politiker geradezu modellhaft die völkische Gesinnung verkörpert, die fälschlicherweise als überwunden galt. Helmut Ortner stellt ein neues Buch vor, das beschreibt, wie Björn Höcke wurde, was er ist, wie sein Denken und seine Propaganda funktionieren und wie er es schaffte, die AfD zu dem zu machen, was sie heute überwiegend ist: rechtsextrem.

Die regionale Revolte: Schüler-Aufstand 1969

Live im Fernsehen!

Eine der grundsätzlichen Forderungen der Studentenrevolte in den Jahren 1967/1968 war die nach einer Bildungsreform. Die Administration aber konnte sich nicht von ihren alten hierarchischen Vorstellungen trennen. Der Muff von tausend Jahren befand sich nicht nur unter den Talaren, sondern in den Köpfen. Daraus entspringende Willkür stieß aber auch in den Gymnasien, wo sich der Emanzipationsgedanke ebenfalls verbreitete, auf den Widerstand der Schüler. Frank Schuster hat ein Buch über den Schüleraufstand in Darmstadt 1969 geschrieben, und PH Gruner hat es gelesen.

Jugendliche auf der Suche nach Sinn und Zugehörigkeit

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“

Es entspricht dem Gleichheitsgebot, auch denen ein schulisches Angebot zu machen, denen Bildung und Ausbildung nicht in den Schoß gefallen ist. Solange aber über die Art und Weise und das Ziel einer beruflichen Anbahnung unterschiedliche Auffassungen herrschen, solange Jugendliche keine Aussicht auf eine Arbeitsstelle haben, laufen alle Bemühungen ins Leere. Jutta Roitsch hat nach den letzten Umfragen eine widersprüchlich-betrübliche Vorstellung bekommen.

Über die Liebe zum Theater als Ergebnis der Sozialisation

Mein Leben als Voyeur

Es ist ein Unterschied um’s Ganze, ob man kulturelle Institutionen wie das Theater nicht besuchen will, ob man keine Gelegenheit dazu hat oder ob einem die Möglichkeit gar nicht erst angeboten wird. Letzteres ist eine Bevormundung durch Unterlassung. Denn spätestens seit Beginn der Schriftlichkeit gehört das Theater zu den wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation. Alles, was auf der Bühne geschieht, ist von Bedeutung. Wie alle Kunst ist Theater aber immer auch ein Wagnis. Thomas Rothschild erzählt von dem großen Vergnügen, sich hineinziehen zu lassen in das Spiel, das Verstand und Gemüt bewegt.

Lily Brett im Gespräch mit Marli Feldvoß

Viel Vergangenheit im Kopf

Als Tochter von Auschwitz-Überlebenden wurde Lily Brett 1946 in Bayern geboren. Da ihre Eltern das Land der Täter bald verließen, wuchs sie in Australien auf. Dort machte sie sich zunächst durch Interviews mit Popgrößen wie Jimi Hendrix, den Rolling Stones oder The Who als Musikjournalistin einen Namen. Seit ihrem Roman „Einfach so“ ist sie auch als feste Größe im Literaturbetrieb verankert. Marli Feldvoß hat Lily Brett 1999 und 2006 interviewt und sie in den Gesprächen auch nach biographischen Details und ihrem Verhältnis zu den Deutschen befragt.

Der Charlie Kirk-Mythos – verkehrte Welt

Die Werte des Westens

Seit der Trennung Europas in eine westlich-lateinische und eine östlich byzantinisch-orthodoxe Welt seit Karl dem Großen haben sich offenbar auch die Welt-Anschauungen unterschiedlich entwickelt. Und vielleicht etabliert sich darüberhinaus gerade eine dritte, transatlantische, die sich im profanierten Märtyrertum offenbart. Matthias Buth ist der Gesinnung Charlie Kirks nachgegangen und dem Verständnis westlicher Werte.

Yanick Lahens Roman „Mondbad"

Zeit ohne Scham

Trotz der immer weiter wachsenden Gefahren hat sich die international ausgezeichnete, haitianische Autorin Yanick Lahens weiterhin entschieden, ihren Lebensmittelpunkt in Port-au-Prince zu bewahren. Hier ist ihr Werk verwurzelt, hier entstand auch der in Frankreich mit dem Prix Femina 2014 ausgezeichnete Roman „Mondbad“, der nun ins Deutsche übersetzt worden ist. Der Roman spürt den Wurzeln nach, die die Gegenwart des Karibikstaates bis heute prägen und lenkt den Blick vor allem auf die Lebensweise der Menschen, die innerhalb traditioneller Hofgemeinschaften in der bäuerlich geprägten Provinz überdauert haben, stellt Andrea Pollmeier fest.

Nina Simones und Frank Sinatras „I Did It My Way” an der Oper Stuttgart

Sie tun’s auf ihre Art

Warum setzen wir uns immer wieder mit dem Theater und der Oper auseinander? Weil die Bühnenkunst beansprucht, das künstlerisch zu verwandeln, was uns wesentlich angeht. Das kann komisch oder tragisch daherkommen – die intelligente Arbeit ist in künstlerischer Hinsicht immer erfolgreich, setzt kollektive Reflexion in Gang und kollidiert stets mit dem Geld, weil Gewinnstreben und Einsparungen destruktiv wirken. Thomas Rothschild hat sich in der Stuttgarter Oper „I Did It My Way” angesehen – ein Stück, das nicht von Nina Simone und Frank Sinatra verfasst wurde – und geht ins Grundsätzliche.

Der „Fall Paul de Man“ als literarisches Faktum

Autor, Täter, Held

Wie chinesische Legenden Maler in ihren Bildern verschwinden lassen, Poeten in ihren Gedichten, so kann auch im Westen ein Sprachwissenschaftler in den Mythen der Öffentlichkeit weiter existieren, deren Bedeutung er selbst über die Fakten erhoben hat. Felix Philipp Ingold bringt Paul de Man in Erinnerung, seine Thesen, sein kompliziertes Leben und dessen Bild in den Medien.

Aus dem Notizbuch von Eldad Stobezki

Krieg, Honig, Sternschnuppen

Es sind „die schweren Ereignisse“, die selbst die flüchtigen, natürlichen Vorgänge in Eldad Stobezkis Notizen grundieren: den Kibbuz, die Avocadoplantagen, das Summen der Bienen, den Buchweizen- und Avocadohonig, das Saatgut, die Zeit, die Oper und die Alpen, Unterhosen und Meisenknödel. Nicht zu vergessen: der Perseidenregen.

Auf dem Pariser Friedhof Montparnasse

Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo müssten keine großen Wege zurücklegen

Die Nouvelle Vague hat ihre Toten, soweit sie in Paris verblieben, in die drei Prominentenfriedhöfe gespült. Viele von ihnen auf den Cimetière du Montparnasse, wo sie unsortiert und ohne Drehbuch in den stummen Rollen ihres Nachruhms verharren. Sie, die das Kino mit ihren Meisterwerken erneuert haben, sind dort verstreut und wollen gefunden werden. Rainer Erd bietet sich für eine cineastische Friedhofsführung an.

Zum Tod von Joachim Durrang

Äquidistanz

Wes das Herz voll ist, der findet keine Ruhe, muss malen, zeichnen und schreiben, wie Joachim Durrang es tat. Und wer wie er sich in der Tradition Rimbauds und Baudelaires sieht und eine Flut von Metaphern, „die auf nichts bezogen sind, nichts abbilden“ (Reder), hervorbringt, will sich der Maßlosigkeit dreingeben. Bernhard Bauser erinnert an den Frankfurter Bild- und Wortkünstler Durrang.

Così fan tutte in der Oper Frankfurt

Szenen einer geplanten Hochzeit

Ist die Heirat das Ende einer stabilen Beziehung oder ihr Beginn? Was, wenn sich das die Braut im Moment der Unterzeichnung des Ehevertrages fragt und zögert? Genau das passiert in der neuen Produktion von Mozart-Da Pontes Così fan tutte und stürzt die Protagonisten des überkreuz ausgefochtenen Gefühlskampfes in so dramatische wie komische Turbulenzen. Die Zuschauer:innen der Premiere bejubelten sie aus gutem Grund. Denn sie durften ein herrliches Gesamtkunstwerk aus Musik, Sprache, Schauspiel, Bühnenbau- und Kostümkunst genießen, schreibt Andrea Richter.

„Antigone" von Sophokles in Frankfurt

Ein Triumph des ‚Theaters‘

„Das Gleiche lässt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht“, erklärte Goethe seinem Eckermann anlässlich der „Antigone“. Lässt sich der Widerspruch nicht auflösen, spricht man von einer Tragödie. Und mit der „Antigone“ hat Sophokles das Modell aller folgenden, wahren Tragödien verfasst. In Frankfurt hat man es gewagt, den „Klassiker“ wieder auf die Bühne zu bringen. Martin Lüdke ist davon angetan.

Politik und Religion (II)

Das Unverfügbare

Ökonomie ist die Wissenschaft, die wirtschaftliche Vorgänge zu erfassen versucht. Ökologie strebt das Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur zum Vorteil beider an. Beides leitet sich vom griechischen oikos her, dem Haus als Lebensgemeinschaft. Der folgenreichste Ökonom des 19. Jahrhunderts, Karl Marx, sah die Hauswirtschaft durch Ausbeutung ruiniert, durch den Kapitalismus der Zerstörung preisgegeben. Peter Kern zeichnet im zweiten Teil seines Traktats nach, wie sich der Philosoph Karl-Heinz Haag eine Ökologie der metaphysischen Wesensgleichheit denkt.

Götz Alys „Wie konnte das geschehen?“

Hitlers Deutsche

Das Vergessen, Nichtwissenwollen, Leugnen, Verschweigen, Vertuschen von Verbrechen verändert Menschen. Vor allem, wenn die Schuld so gewaltig ist, dass man nicht vor ihr bestehen kann, wird man von ihr beschädigt. Wie aber kann der Schadensfall ein ganzes Volk betreffen? Der Historiker Götz Aly hat sich der Aufklärung der NS-Verbrechen verschrieben. In seinem neuen Buch beschreibt und analysiert er die zwölfjährige Epoche „Hitlerdeutschlands“ und fragt: „Wie konnte das geschehen?“ Helmut Ortner hat es gelesen.

Zum 80. Geburtstag von Bernd Schwibs

Bernd Schwibs, der Freund und Übersetzer

Es soll Übersetzer geben, die Autoren erst das mitgeben, wofür sie bekannt sind. Das mag nicht überraschen, wenn es um die Übertragung von lyrischen Texten geht, die Mehrdeutigkeit und Hintersinnigkeit mit sich führen. Handelt es sich aber um Wissenschaftsprosa, dann ist eine solche Leistung umso staunenswerter. Wem in diesem Zusammenhang der Name Bernd Schwibs einfällt, der hat vermutlich dessen deutsche Versionen wichtiger Werke neuerer französischer Philosophie gelesen. Ulrich Breth gibt anlässlich Schwibs‘ 80. Geburtstag Auskunft über Werdegang und Arbeit des beeindruckenden Gedankenvermittlers.

Sissi Tax‘ „das abc der sissi tax. wörterbuch“

Menschenverstand lässt grüßen

Es soll auch gute Nachrichten geben. Am Sonntag, den 28. September 2025 wurde im Kino Traumstern in Lich der Licher Literaturpreis verliehen. Er ging diesmal an Sissi Tax für „das abc der sissi tax. wörterbuch“. Tax kommt aus der Steiermark, lebt aber seit über 40 Jahren in Berlin. Ihre Prosa fällt unter die Kategorie Experimentelle Literatur. Und damit entspricht sie den Vorgaben des Licher Literaturpreises, der von dem früheren Anabas-Verleger Günther Kämpf und Vilma Link-Kämpf gestiftet wurde. Bernd Leukert hat das Wörterbuch mit großem Vergnügen gelesen.

Friedman in der Oper II

Fremdsein

In der Oper Frankfurt versuchte Michel Friedman in seiner Gesprächsreihe diesmal mit seinem Gast, dem SPD-Veteranen Franz Müntefering, das virulente Thema „Fremdsein“ mit all seinen Implikationen für das Menschsein und die Demokratie zu beleuchten. Das ging ziemlich schief, denn Müntefering war weder bereit, wichtige Versäumnisse der Politik in der Vergangenheit zu erkennen noch irgendeine brauchbare Idee für die Zukunft beizusteuern. Das Bereicherndste des Abends waren Friedmans Fragen, meint Andrea Richter.

Eine Erinnerung an Robert Jay Lifton

Von der kartesianischen Krankheit

Robert Jay Lifton, der jetzt im Alter von 99 Jahren gestorben ist, wurde mit seinem Buch „The Nazi Doctors“ bekannt. Der Psychiater und Psychohistoriker ging darin dem Jekyll-Hyde-Problem nach: Wie lässt sich erklären, dass Personen als Folterer, Terroristen und Massenmörder tätig sein können, ohne ihre Existenz als fürsorgliche Familienväter davon berührt zu sehen? Dafür stützte er sich auf Aussagen der Täter, die er selbst befragt hatte. Marli Feldvoß sprach mit dem einflussreichen Autor.

Grusical „Das Sanatorium zur Gänsehaut“ von Ferdinand Schmalz

Na! Was ist denn das?

Nicht nur Dramatiker müssen sich heute fragen, ob das Schreckensszenario einer „schönen neuen Welt“ nicht längst ihren Schrecken verloren hat und wie man heute eine solche infernalische Gesellschaft thematisiert. Aber vor allem Theaterleute stehen vor der Aufgabe, dies mit den Mitteln der Kunst auch überzeugend realisieren zu müssen. – Das Schauspiel Frankfurt eröffnete die neue Saison mit einem „Grusical“ von Ferdinand Schmalz, und Martin Lüdke hat es gesehen.

Aus dem Notizbuch

Wassermelone essen

Können wir etwas wahrnehmen, ohne uns dabei etwas zu denken? Gibt es Text ohne Kontext und Subtext? Die Rückgewinnung des Alltags vor dem Hintergrund des Massakers oder das heitere Rondo bei der eigenen Beerdigung – Eldad Stobezkis Notizen sitzen in dialektischer Spannung und bringen, Älterwerden, Kulturspaltung und Rinderhack streifend, Grundsätzliches zum ethnischen Staat zur Sprache.

Kit Downes spielt auf dem Orgelwerk des Kölner Doms

Respekt vorm sakralen Raum

Die Orgel ist die Königin der Instrumente. Und sie ist eine üppige Königin, mit ihrer technischen Ausstattung eine Herausforderung für jeden klangforschenden, entdeckungsfreudigen Tastenspieler. Wenn ein versierter und renommierter Jazzmusiker wie Kit Downes die Gelegenheit bekommt, auf der großen, mehrteiligen Orgel des Kölner Doms zu konzertieren, muss er nicht nur der enormen Räumlichkeit, also deren nachhalligen und tückischen Akustik, sondern auch der Bedeutung des Gebäudes Rechnung tragen. Hans-Jürgen Linke hat gehört, wie Downes die Aufgabe bewältigt.

Kommentar zum soldatischen Eid

Treuer Husar

Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Henning Otte, und der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, Sönke Neitzel, beginnen ihren Beitrag für die FAZ mit der Behauptung: „Soldaten schwören, das Recht und die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland tapfer zu verteidigen.“ Im § 9 des Soldatengesetzes lautet das Gelöbnis (bei Berufssoldaten: der Eid) dagegen: „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ Matthias Buth kommentiert.

Gedichte

Gedicht von Martin Westenberger

der späte blick

Gedicht von Ludwig Fels

NULLPUNKT (1973)

Gedicht von Yevgeniy Breyger

*tiere kennen den weg

Gedicht von Ralph Dutli

Stundenbuch

Gedicht von Johanna Hansen

das sind die tage

Gedicht von Eva Demski

NR. 6 OKTOBERJAHRMARKT

Gedicht von Ralf-Rainer Rygulla

Lebenslauf

Gedicht von Felix Philipp Ingold

AUSGESUNGEN (2)

Gedicht von Ria Endres

Biographie kurzangebunden

Gedicht von Boško Tomašević

MELANCHOLISCHE MOORLANDSCHAFT (1)

Gedicht von Silke Scheuermann

Plastikgedicht

Gedicht von Julia Grinberg

Im Zwischenzeilraum. Endlich Freitag

Gedicht von Steffen Kurz

die große flut

Gedicht von Shirin Kumm

Identitätssuche

Gedicht von Olaf Velte

Wildnis

Gedicht von Johanna Hansen

zeichnen am meer

Gedicht von Elisa Edler

Zwiesprache

Gedicht von Friederike Haerter

Von der Sehnsucht nach Sommer

Gedicht von Jane Wels

Schwankende Lupinen

Gedicht von Safiye Can

Nanatee

Gedicht von Jörg Schieke

Auf meinem Backenzahn,

Gedicht von Max Sessner

August

Gedicht von Stefan Heyer

gilles, der

Gedicht von Andreas Altmann

Über Tag über Nacht

Gedicht von Andreas Hutt

o. T.

Gedicht von Jan Röhnert

Sturmgewölkjuli

Gedicht von Betânia Ramos Schröder

XI

Gedicht von Julia Grinberg

von Ballerinas und Zinnsoldaten

Gedicht von Felix Philipp Ingold

Rate mal!

Gedicht von Julia Mantel

caring-career

Gedicht von Johanna Hansen

windau/ventspils

Gedichte von Jane Wels

3 Gedichte

Gedicht von Andrea Köllner

Tagtraumerwachen

Gedicht von Matthias Buth

Blondi

Gedicht von Lisa Goldschmidt

Abend & Morgen

Gedicht von Tom Schulz

Aschesegen

Gedicht von Dirk Hülstrunk

brücke

Gedicht von Stephan Turowski

Ein liebes Wort

Gedicht von Tamara Labas

im spiegel

Gedicht

Ausfahrt

Gedicht

Memento

Gedicht

Gleisberg

Gedicht

Paul

Gedicht

Traumata